Zur Neueröffnung der Schiessanlage Riedbach hat die Kunstkommission der Stadt Bern den Künstler Rudolf Steiner mit einer künstlerischen Intervention beauftragt.

Das ungewöhnliche Projekt trägt den Titel «300 m» und ist ein Buch.

 

Es wäre ein Irrtum anzunehmen, nur Schützen hätten das sprichwörtliche Recht auf Ausreden wenn sie ihr Ziel verfehlen – auch Künstler haben es. Im vorliegenden Fall ist die Ausrede besonders erstaunlich weil hier einer behauptet das zu tun, was man «Kunst im öffentlichen Raum» nennt - mit einem Buch. Darin sind ganzseitige schwarzweisse Fotos versammelt von über 200 mittelländischen Schiessanlagen, ohne Text und ohne Ortsangabe. Immerhin können Kenner die Anlage Riedbach unter den Aufnahmen ausmachen - womit auch schon der einzige Zusammenhang von Buch und Neueröffnung erwähnt wäre. Ansonsten bleibt es das Geheimnis der Kunstkommission der Stadt Bern, warum sie den Bieler Künstler Rudolf Steiner mit der Aufgabe betraut hat, die künstlerische Intervention im öffentlichen Raum des Riedbachs mit diesem Buch auszuführen. Aber Hand aufs Herz: wer hätte sich eine Skulptur vor, neben oder hinter dem Schützenhaus gewünscht, wer eine farbliche Neukonzeption der Standnummern oder gar eine Geräuschkulisse im Eingangsbereich? Das Buch hingegen stört das Auge des Schützen kaum, zumal es in einem angenehm dezenten Feldgrau daherkommt.

 

Dass es sich bei diesem Buch, einmal geöffnet, um Kunst handeln könnte, wird als Nebenwirkung gerne in Kauf genommen. Denn es zeigt nicht mehr und nicht weniger als das schon Bekannte: Standnummern in Schwarz auf Weiss oder Weiss auf Schwarz, mehr oder weniger krumm vor einen mehr oder weniger dunklen Waldrand postiert, mehr oder weniger durchlöchert, ungrade Zahlen nur oder grade oder beides, von 1 bis 2 oder 1 bis 80 etc. Diese Bilder wechseln ab mit solchen, die Eingänge in die Zeigergräben zeigen – seltsame Türen und Treppen, die direkt ins Erdreich führen oder nur so tun; Verbauungen, die eher an die Schützengräben von Verdun erinnern als an einen Waldrand in Hasle-Rüegsau. Vielleicht ist es auch der strenge Ton der Fotografien, das allgegenwärtige Schwarz und die leichte Unschärfe, welche sich gemeinsam über die Details legen, die den Abbildungen jene historische Dimension verleiht von Krieg und Kälte und Erde – gemeint sei das alles nicht, sagt der Autor. Was ihn vorab interessiere, so Steiner, sei die möglichst vollständige Dokumentation eines typisch schweizerischen Phänomens, bevor es verschwinde. Das Vordringen der Siedlungsränder bis an die Zielscheiben, das Verdrängen der Schiessanlagen aus den Dörfern (trotz gesetzlicher Schiesspflicht) und die Folgen für die Gemeinden, für die Vereine, die Gesellschaft – das alles gerinnt im Buch zu einem kritisch-nostalgischen Blick zurück in eine Landschaft, die noch mit einfachen Zahlen in genaue Ziele einzuteilen war.

 

Die Bilder ihrerseits stehen dem auf Präzision ausgelegten Akt des Schiessens merkwürdig gleichgültig gegenüber. Indem sich Steiner einer alten Boxkamera mit blindem Sucher und nur zwei Blenden und zwei Verschlusszeiten bedient, steckt er sein Ziel knapp ausserhalb der Fotografie in einen Bereich, wo die Analogien von Schiessen und Fotografieren weniger sprachlich (ein Foto «schiessen») als phänomenologisch wirksam werden: die Kamera fängt etwas ein und «bewahrt», das Gewehr sendet etwas aus und «zerstört». Doch die Waffe auf ihr Gewaltpotential zu reduzieren wäre zu einfach, zu langweilig, sagt der Autor. Es geht ihm vielmehr um die Benennung jenes präzisen Blickes, der beim Schiessen wie beim Fotografieren eine kurzfristige Ausdehnung und Veränderung des Körpers in den Raum bedeutet, um - im einen Fall - in Sekundenbruchteilen in 300 Meter Entfernung ein Loch zu bewirken ; oder um - im anderen Fall - in jahrelanger Arbeit einen verschwindenden Raum einzuholen.

Trmasan Bruialesi

lebt als Ethnologe und Publizist in Berlin

  

Das Kunstbuch «300 m» von Rudolf Steiner erscheint in der «Edition Haus am Gern» und wurde anlässlich der Neueröffnung der Schiessanlage Riedbach am 22. März 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt.

Ein Teil der Auflage ist für die Schützenvereine und Schützengesellschaften im Riedbach bestimmt.

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