Einführung zur Ausstellung von Christina Ohlmers "SCHAU"

imGeorg Scholz Haus / Kunstforum Waldkirch, Merklinstr. 19, Waldkirch (D)

Da mein Zug aus Paris heute etwas zu früh in Freiburg ankam, hatte ich noch Zeit in einem der gemütlichen Freiburger Cafes meine Rede vorzubereiten. Diese Gelegenheit, Stadt und Umgebung näher kennenzulernen, freute mich umsomehr, als ich heute zum ersten Mal in dieser Gegend bin. Ich fragte mich, welches Redekonzept denn für die Ausstellung von Frau Ohlmer geeignet wäre und bestellte einen Cafe mit Kuchen. Ich begann gerade mich so richtig wohlzufühlen, als ein junges Paar am Nebentisch in einen heftigen Streit geriet. Er, ein junger Freiburger Student, warf ihr, seiner noch jüngeren französische Freundin vor, das sie seine Träume und Fantasien nicht erfüllen könne. Daraufhin schrie sie ihn an: "Mais tu te fais des films". Wörtlich übersetzt: Aber du machst dir Filme ! Das bedeutet so viel wie: du machst dir was vor, du träumst , du spinnst, du bist völlig verrückt.

Nachdem ich das gemütliche Cafe verlassen hatte, bekam ich selbst Lust, mir einen Film zu machen, und begann nach geeigneten Fantasien Ausschau zu halten. Schon in der Ausstellung MISS YOU, neulich im Museum für Neue Kunst in Freiburg hatte ich das Gefühl, das Frau Ohlmers Arbeiten reichlich filmischen Stoff enthielten.

Sehen wir uns zum Beispiel diese Arbeiten hier genauer an, Zeichnungen aus der Serie "Libexquise" , welche im Rahmen eines Arbeitsstipendiums des Landes Baden Würtenberg in der Cité International des Arts in Paris entstanden ist. Es handelt sich um Tuschezeichnungen auf Transparentpapier, auch Architektenpapier genannt. Das Papier wird beidseitig bezeichnet, um an unterschiedliche Oberflächen, wie die von Stoffen, Glas oder Haaren erinnern zu können.

Um diese Arbeiten genauer betrachten zu können, haben meine Labors eine Foto-Videolupe entwickelt:

Diese Lupe entstand übrigens in enger Zusammenarbeit mit dem Institut am Gern in Biel.

Diese Zeichnung trägt den Titel: "une dernière erreur" - ein letzter Fehler.

Dieser Mann, auch ein Motiv der Serie 6x11, könnte das 1. der 7 Opfer sein, aus dem berühmten Film "Seven" - die sieben Todsünden. Ich errinnere an die Szene in der Morgan Freemann und Brad Pitt in einer von Ungeziefer befallenen Baracke die Leiche eines fetten, bleichen, kahlköpfigen Mannes entdecken, der von seinem Peiniger, einen fanatischen Christen, gezwungen wurde, sich zu Tode zu fressen. Dies war die Strafe für seinen unmässigen Spagettigenuss und für die Todsünde der Völlerei.

Aber kommen wir zurück zu der Frage, die mich vorher im Cafe beschäftigt hatte: welche Rede würde am besten zur Austellung Schau im Georg Scholz Haus passen? Zum Beispiel könnte ich damit beginnen, einige der vielen Preise, Auszeichnungen und Stipendien von Frau Ohlmer zu erwähnen. Die Auslandsaufenthalte in Florenz oder Montreal, die grosse Klanginstallation im Plenarsaal des Landtags in Stuttgart, oder die Stipendien in Paris und Budapest. Aber wird man der Arbeit damit gerecht ? Sind Erfolg oder Misserfolg ein Thema in Frau Ohlmers Arbeiten?

Um uns möglichen Antworten auf diese Frage anzunähern sehen wir uns diese Zeichnung mit dem Titel "l'entretien de la souffrance" an, die Bewahrung des Leidens. Diese Szene hier unten errinnert tatsächlich entfernt an den berühmten Film "A bout du souffle" von Jean-Luc Godard.

Am Flughafen trifft die junge Journalistin den soeben gelandeten, weltberühmten Filmressieur mit seiner schwarz-weiss schraffierten Kravatte. Sie fragt ihn: "Was wäre Ihr grösster Erfolg im Leben? Er antwortet: "Unsterblich werden, und dann sterben".

Aber ich glaube nicht, dass hier von Erfolg oder Misserfolg die Rede ist. Wir bleiben besser bei den wichtigen Fragen, den Fragen nach dem Tod und dem Leben danach. Anlässlich einer Ausstellung von Frau Ohlmer im Musee d'Art Moderne in Paris hatte ich zufällig Gelegenheit einige Fotografien von Exponaten der Serie 6x11 zu machen, welche auch in der hiesigen Ausstellung zu sehen sind. Hier die Arbeit mit dem Titel "Annäherung":

Der Pfau mit den schwarzen Knopfaugen.
Das Mädchen mit dem Weinstock

In antiken Grabmalereien war der Pfau der schönste aller Vögel. Er erscheint auch in den Katakombenmalereien, in denen das Abbild des Gartens zum Abbild des Paradieses wird. Im Apsismosaik der Kirche Santa Clemente in Rom ist der Pfau um 1125 das Tier, das aus dem Lebensbrunnen trinkt, um den Seligen den Weg zum Paradies zu deuten. Im Symbolzusammenhang mit der Taufe und der Eucharistie stehen Darstellungen von Pfauen, die aus einem Gefäss trinken, aus dem ein Weinstock herauswächst.
Dieser Weinstock, ist hier vielleicht die Waffe des Mädchens, das den Pfau töten wird.
Das Mädchen ist von seitlich hinten zu sehen, die Gesichtszüge bleiben uns verborgen, wir wissen nicht ob Anspannung oder Furcht, Heimtücke oder Mordlust auf ihrem Gesicht zu lesen wären.

In einer anderen Zeichnung mit dem Titel "Schau" sehen wir das Gesicht der jungen Frau, aber ihr Blick verweist uns auf einen Gegenstand in ihrer Hand.
Dieser Gegenstand könnte eine Triangel aus Blättern sein, aber es könnte auch eine Beute sein. Eine Beute, die im Namen einer Sekte geschlagen wurde, einer Freimaurerloge, deren Emblem auf das Revers der Jacke aufgestickt wurde.

Bei abnehmender Distanz steigt die Unschärfe.

Auch der rätselhaft lockende Gegenstand in der Hand des Mädchens ist ein Emblem. Ein Emblem für das Sehen und das Sehen steht im Zentrum der Zeichnung "Schau", wie in Frau Ohlmers Schaffen überhaupt.

Ich könnte meiner Rede jetzt eine unerwartete und doch nachvollziehbare Wendung geben, wenn ich diesen letzten Satz ins Gegenteil wende. Ich stelle also die Behauptung auf, das es in Wirklichkeit nicht vom Sehen, sondern vom Nicht-sehen die Rede sei. Ich würde diese Behauptung dann anhand einer weiteren Zeichnung mit dem Titel "Fundstück" unterlegen.

Wir sehen Amor, dem Gott der Liebenden, mit dem Gesicht zu Boden, rücklings von einem Pfeil getroffen.

Wir wissen nicht, ob Amor tot ist, auch nicht, ob es sich um einen seiner eigenen Pfeile handelt, aber wir wissen das er ganz sicher nichts sehen kann. Wir können deshalb davon ausgehen, dass es sich hierbei um den seltenen Topos des blinden Amors handelt.

Das bekannteste Beispiel dieses Typs erscheint in der an Giotto erinnerenden Allegorie der Keuschheit in Santa Francesco in Assisi, etwa 1320. Hier werden Amor und sein nackter Gefährte Ardor durch Mors - ein Skelett mit einer Sense und eine geflügelte Frauengestalt in Mönchskleidern vom Turm der Keuschheit vertrieben. Amors Augen sind verbunden, und er ist vollkommen nackt bis auf das Band seines Köchers, auf das die Herzen seiner Opfer wie die Skalpe auf dem Gürtel eines Indianers aufgefädelt sind.

Das Schau-Emblem in der Hand des Mädchens könnte auch ein stilisiertes Herz sein, oder eine Augenbinde. Die Augenbinde ist das immer wiederkehrende Attribut des blinden Amor. Der blinde Amor, ein nacktes kleines Ungeheuer, das zum Zweck der Mahnung geschaffen wurde.
In einer spätmittelalterlichen Zeichnung aus dem 15 Jhd sehen wir den blinden Amor in Begleitung der Venus und der drei Grazien:

Oben: Amor mit Augenbinde, in der Mitte Venus mit einem Spiegel, dem Betrachter zugewendet.

Venus verweist auf den Spiegel wie mit der stummen Aufforderung: Schau! Auch das Mädchen in Frau Ohlmers Zeichnug "Schau", benutzt wie Venus den Gegenstand in ihrer Hand als Blickfang und gleichzeitig als Aufforderung zu sehen. Im ausgehenden Mittelalter war der direkte Blickkontakt der Bildpersonen mit dem Betrachter noch nicht gestattet, deswegen wählt Venus den indirekten Weg über den Spiegel.

An dieser Stelle wäre es Zeit, meiner Antithese die Krönung aufsetzen. Ich ziehe die Schlussfolgerung, dass das Mädchen in Frau Ohlmers Zeichnungen eine zeitgenössische Venus-Darstellung ist. Venus, Göttin der Liebe und Amors Mutter.

Aber ich habe Zweifel, ob dieser ikonologische Ansatz überhaupt für eine Rede taugt.

Wir können deswegen nicht mit letzter Gewissheit sagen, wer die Heldin in Frau Ohlmers Zeichnungen ist. Auch die genannte Arbeit "Fundstück", mit dem wahrscheinlich totem Amor, will diese Frage nicht beantworten.

Zum Thema Fundstück fällt mir noch eine seltsame Begebenheit ein, welche sich neulich in einem Pariser Strassencafe in der Nähe der Place d'Abbesses zugetragen hat:

Cristina Ohlmer und Helen Hirsch waren gerade von der deutsch-usbekischen Konferenz aus Taschkent zurückgekehrt, und ich traf die beiden zufällig bei einem Spaziergang durch mein Lieblingsviertel. Wir begannen also über Cristinas Ausstellung "Present of Colour" in Taschkent, Samarkand und Zürich zu sprechen, als Cristina mir ein sonderbares Fundstück zeigte, welches aus den Bergen von Tschorwoq in der Nähe der Stadt Oltin Olma aus Usbekistan stammt. Sie nannte es den "Fotostein" und wollte gerade davon berichten, wie es ihr der Fotostein gestattet hatte, das Porträt eines Usbeken aus Freiburg zurück nach Usbekistan zu bringen, als plötzlich am Tisch neben uns ein junges Paar sich heftigst zu streiten begann. Eine reife französische Studentin beschimpft ihren sehr viel jüngeren Freund, dem Akzent nach wahrscheinlich ein Student aus Süddeutschland, dass er ihre Träume und Fantasien nicht erfüllen könne. Darauf hin schrie er, ausser sich vor Wut: Mais tu te fais des films! Wörtlich: du machst dir Filme, im übertragenen Sinne: du fantasierst, du spinnst , du bist verrückt.

Aber wir werden ein anderes Mal über den Fotostein berichten, damit Sie vor dem Mittagessen noch Zeit haben, sich Ihre eigenen Filme mit den Werken von Cristina Ohlmer zu machen.
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