Bieler Tagblatt, Samstag, 24. 05. 2003


Alte Krone Biel: Franz Dodels Endlos-Gedicht

Das Auge «hört» die fernen Laute



Endlosigkeit ist Programm: «Nicht bei Trost, a never ending Haiku» nennt Franz Dodel sein Kettengedicht, das am Sonntag in der Alten Krone Biel in einer Marathon-Lesung vorgestellt wird.


Christophe Pochon


Die Probe wurde aufs Exempel gemacht, und es stimmt: Das Ohr ist gefordert, wenn man sich auf das Endlos-Gedicht des in Boll bei Bern lebenden Schweizer Lyrikers Franz Dodel einlassen will. Durch lautes Lesen ist der Zugang zu dieser ungewöhnlichen Poesie am besten gewährleistet. Deshalb ist es nur folgerichtig, Dodels «Nicht bei Trost, a never ending Haiku» vorzutragen: morgen Sonntag rezitieren Freunde des Dichters und seines in Biel domizilierten Verlags Edition Haus am Gern im Rahmen der Ausstellungsreihe «au joli mois de mai» in der Alten Krone in Biel zwölf Stunden lang aus Dodels neuestem Werk.

Die Frau mit der Kuh
Das Endlos-Gedicht braucht nicht nur eine Stimme, sondern auch die Bereitschaft zur Wiederholung von Textstellen und zum Verzicht auf jede Hast. Dann tritt der Rhythmus des Haikus klar hervor. Setzt Schwingungen frei, die den Eindruck entstehen lassen, ähnliche würden alles durchdringen - den Kosmos, die Natur, das menschliche Leben.
Wir können nur unser Ohr nicht genügend schärfen, um sie wahrzunehmen. Aber das Haiku vermag eine Ahnung davon zu geben, löst selber Impulse aus. Die Scheu regt sich, den Inhalt näher zu beschreiben. Den gibt es eigentlich nicht. Es sind ineinander übergehende Momentaufnahmen. Zwar berichten sie beispielsweise von Landschaften in einer bestimmten jahreszeitlichen Stimmung. Aber der Verfasser will vorab, dass durch den Klang der Worte beim Hörer oder Leser eigene Bilder entstehen. Bilder. Das Auge wird ebenso wie das Ohr angesprochen. Oder tritt sogar an die Stelle des Ohrs. Vermittelt Wahrheit über Laute. Das ist möglich. In der Ferne spricht eine Frau mit einer Kuh und verschwindet dann mit dem Tier hinter dem Horizont.

«irgendwie bleibt ein Gefühl
das mir versichert
dass dieses Reden wahr ist
auch ohne dass ich
es höre...»

Reden. Tönen. Aber der Lärm bleibt aussen vor in diesem Haiku, das Dodel gewählt hat, weil es ihm als Kurzform (5-7-5 Silben) «in seiner prägnanten, streng formalen Einschränkung sehr entgegenkommt, einer Askese vergleichbar», wie sich der bald 54-jährige Autor ausdrückt, der dafür am vergangenen Sonntag in Bern mit dem Heinz-Weder-Preis für Lyrik ausgezeichnet wurde. Asketisch ist die Sprache in der Tat; nichts anderes ist möglich, denn in der Üppigkeit würde sich der Rhythmus verlieren, nähme die Vorstellungskraft Schaden. Dodel selbst sieht sein Haiku nicht in einem Zusammenhang mit einer literarischen Tradition Japans, wo laut einem Beitrag des Autors zur Preisverleihung eine vergleichbare traditionelle japanische Gedichtform Haikai no renga heisst. Ihn interessiert ausschliesslich die «sperrige, strenge Silbenbeschränkung».

Im Internet
Die weckt beim Hören des Gedichts das Gefühl, es sei alles im Fluss. Die Schöpfung nicht beendet. Das kommt nicht von ungefähr, hat eine formale Entsprechung: Dodels Schöpfung dauert ja an - a never ending Haiku -, das Gedicht wächst weiter und weiter. Nicht streng abgeschirmt von der Öffentlichkeit; sie kann sich im Internet über den Fortgang des Projekts informieren. Und ist eingeladen, mit dem Text zu spielen, Passagen zu markieren und für sich neu zu verknüpfen, zu ergänzen. Es wird an die Kreativität des einzelnen appelliert. Dodel selbst erleichtert mit Randbemerkungen den Zugang zu seinem Gedicht. Er nimmt es in Kauf, wenn sein jüngstes Werk als Gebrauchsware behandelt wird. Jeder wird Stellen finden, die ihn ganz persönlich ansprechen. Die er herausnehmen und mit einer bestimmten andern verbinden möchte. Oder einer ist angetan von verblüffenden Übergängen, etwa jenem vom italienischen Maler Caravaggio zur Teppichknüpferei mit ihren für Kinder trostlosen Aspekten.

«Nicht bei Trost»: Das Haiku gehört zu einem sogenannten Untrost-Block. «Trostangebote werden heute immer suspekter. Warum nicht den Untrost aushalten? Warum soll Nichtsein schlechter sein als Sein? Warum die Sprache nicht in diesen Prozess existenzieller Auseinandersetzung einbeziehen?», fragte Dodel die Schriftsteller-Kollegin Helen Stark-Towlson bei einer Begegnung.
Und er, der auf ein abgeschlossenes Theologiestudium zurückblicken kann und sich in seinem Gedichtband «Mein Haus hat keine Wände» als ein eigenwillig Nachdenkender entpuppt, gibt die Antwort gleich selber: «Eine spirituelle Haltung, die das Loslassen lehrt, indem sich der Mensch helfend dem Nächsten nähert - das ist mein Gewinn. Schreibend? Ja, schreibend. Ist das nicht ein Trost?» Feststeht, dass man nicht ungetröstet von seinem Haiku-Gedicht weggeht.

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